Erbil, Kurdistan, Irak (KRG.org) – Ein Interview mit Ministerpräsident Nechirvan Barzani über Schottlands Unabhängigkeitsreferendum.
KRG.org: Sie interessieren sich sehr für das Unabhängigkeitsreferendum der Schotten und haben den Vorgang genau mitverfolgt. Warum?
Ministerpräsident: Ich fand diesen Prozess faszinierend und es gab viele Lektionen, die man daraus ziehen konnte. Großbritannien ist eine der ältesten Demokratien der Welt. Ihre parlamentarische Tradition geht mehrere Jahrhunderte zurück. Es ist auch ein altes Staatsmodell – ein Zusammenschluss verschiedener Nationen. Es war einmal ein großes Reich und erstreckte sich über mehrere Kontinente. In entscheidenden Momenten der Geschichte hat das Vereinigte Königreich dazu beigetragen, die Welt, in der wir heute leben, zu formen. Viele der heutigen Staaten wurden entweder direkt vom Vereinigten Königreich hervorgebracht oder durch seine Ideen von wirtschaftlicher Freiheit, Souveränität und dem Recht der Menschen ihre Zukunft selbst zu bestimmen beeinflusst und inspiriert.
KRG.org: Haben Sie ein bestimmtes Staatsbildungsmodell im Auge, das dem Großbritanniens ähnelt?
Ministerpräsident: Ja. Als Großbritannien in den 1920er Jahren die Grenzen des heutigen Irak festsetzte, war eine der Ideen, an welcher britische Diplomaten und Beamte arbeiteten, ein Vereintes Königreich Irak zu schaffen. Diese Menschen unterstützten die Etablierung Kurdistans in einem Königreich unter Sheikh Mahmoud und die Schaffung eines Königreiches unter den Haschemiten, um daraus dann das Vereinte Königreich Irak zu bilden. Unglücklicherweise kam dies am Ende nicht zu Stande, ein gemeinsames haschemitisches Königreich wurde kreiert.
KRG.org: Was sind die Lektionen, die man Ihrer Meinung nach aus dem schottischen Unabhängigkeitsreferendum ziehen kann?
Ministerpräsident: Die erste Lektion, die einem in den Sinn kommt: der beste Weg in dem verschiedenen Völker in einem Staat zusammen leben, ist der einer freiwilligen Vereinigung. Die aktuelle Vereinbarung zwischen Schottland und dem Vereinigten Königreich ist 300 Jahre alt. Selbst in alten Demokratien, wie dem der Briten, können die Menschen die politische Ordnung hinterfragen.
Die schottische Nationalpartei wollte letztlich den demokratischen Charakter des britischen Staates testen, indem sie eine Volksabstimmung umsetzte. Sie hatten die Möglichkeit, eine Volksabstimmung durchzuführen in welcher die Mehrheit beschloss in der Union zu bleiben. Trotz der starken Gefühle und Emotionen, die in der Debatte rund um das Referendum zum Ausdruck gebracht wurden, glaube ich war der Prozess sehr wichtig. Im Gegensatz zu vielen Ländern, die darum kämpfen ihr Land zusammenzuhalten, nahmen die Politiker Großbritanniens ein großes Risiko auf sich in dem sie eine Teilung des Landes zugelassen hätten, am Ende jedoch wurde durch diese Entscheidung die demokratische Legitimität und die zukünftige Union gestärkt.
Das schottische Referendum erlaubte denjenigen, die an die Unabhängigkeit Schottlands glaubten, die Schotten nach ihrem Wunsch in der Union zu bleiben zu befragen. Dies ist ein ausgezeichnetes Beispiel für einen demokratischen und friedlichen Prozess, ganz im Gegensatz zu Bürgerkriegen, Gewalt und Besatzungen, welche wir in anderen Teilen der Welt mit ansehen müssen, wenn diese mit Nationalismen konfrontiert werden.
KRG.org: Können Sie eine Parallele zu unserer Situation in Kurdistan und im Irak erkennen?
Ministerpräsident: Ja, natürlich. Wir müssen unsere Situation in Kurdistan gründlich untersuchen. Wir sind Teil einer föderalen Vereinbarung mit dem Rest des Irak. Vier von fünf Wählern im gesamten Irak haben im Jahr 2005 diese föderale Vereinbarung genehmigt. Seit diesem Zeitpunkt gibt es aber noch einige wichtige Artikel, die in unserer Verfassung verankert werden müssen.
Wir haben demokratische Wahlen abgehalten. Die Menschen erwarten Ergebnisse: Wir müssen die Lebensbedingungen der Bürgerinnen und Bürger verbessern; wir müssen Sicherheit und Schutz in Kurdistan gewährleisten; wir brauchen eine endgültige Entscheidung über Artikel 140; wir müssen sicherstellen, dass wir nicht zum Spielball der Launen einzelner Politiker in Bagdad werden, hinsichtlich wann oder ob wir die in der Verfassung garantierten Einnahmen erhalten; und wir müssen das Gefühl haben, dass wir Teil eines Landes sind, in dem unsere Bedürfnisse, Anliegen und Wünsche ernst genommen werden.
Nun, wenn eine klare Mehrheit der Wähler in Schottland jetzt beschlossen hat, dass sie in der Union bleiben wollen, so hat die Regierung in London auch erkannt, dass ein wesentlicher Teil der Bevölkerung in Schottland über ihre künftigen Beziehungen zu Westminster besorgt ist.
Ich war sehr erfreut zu hören, dass Premierminister David Cameron versprach mehrere Leistungen an die verschiedenen Teile des Landes zu übertragen. Ich wünschte, ich könnte ähnliche Meldungen aus Bagdad vernehmen, wenn die Leute in Kurdistan ihre Bedenken zum Irak zum Ausdruck bringen. Ich möchte Politiker in Bagdad sagen hören: „Wir hören auf die Leute aus Kurdistan und wir werden uns um Ihre Bedenken kümmern, denn wir wissen, dass man nicht auf Dauer mit einem unglücklichen Partner kooperieren kann. Die Welt verändert sich, und so müssen wir uns auch verändern.“